Ein Versuch, verschiedene Arten von Krisen zu unterscheiden und zu definieren
MMag. Ulrike Charwath-Klinger
In diesem Abschnitt wird erläutert, welchen Arten von Krisen wir in der Praxis in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen begegnen. Auf der Basis dieser Unterscheidung soll es einfacher sein zu entscheiden, welche Behandlung bzw. Intervention eine individuelle Krise benötigt.
Inhaltsverzeichnis
1. Psychosoziale Krise
- 1.1. Familienkrisen
- 1.2. Pädagogische Krise
2. Psychiatrische Krise
3. Gegenüberstellung von pädagogischer und psychiatrischer Krise
4. Die psychosomatische Krise
5. Entscheidungsbaum
6. Literatur
1. Psychosoziale Krise
Allgemeine Definition einer psychosozialen Krise: Psychosoziale Krisen treten ein, wenn Menschen mit Lebensumständen konfrontiert werden, für die ihre Problemlösungsstrategien im Augenblick nicht ausreichen. Es entsteht ein Gefühl der momentanen Überforderung, was mit dem Verlust des seelischen Gleichgewichts und verschiedenen körperlichen und psychischen Symptomen verbunden sein kann. Eine Krise äußert sich als plötzliche oder fortschreitende Verengung der Wahrnehmung, der Wertesysteme sowie der Handlungs- und Problemlösungsfähigkeiten. Sie stellt bisherige Erfahrungen, Normen, Ziele und Werte infrage und hat oft für die Person einen bedrohlichen Charakter. Es können Störungen der Stimmung, des Denkens, des Verhaltens und der sozialen Beziehungen entstehen. Eine Krise ist eine Notsituation, in der die Betroffenen sehr starke Emotionen wie Angst, Verwirrung, Unsicherheit, Wut und / oder Panik empfinden, verbunden mit dem Gefühl des Kontrollverlustes und großer Ausweglosigkeit. In dieser Situation besteht die große Gefahr sich selbst oder anderen schweren Schaden zuzufügen.
1.1. Familienkrisen
In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist es sinnvoll, dieses Verständnis von psycho-sozialer Krise noch zu erweitern, da Kinder und Jugendliche immer gemeinsam mit dem System, in dem sie leben, zu betrachten sind. Es geht also um Konflikte und Ereignisse, welche die Selbsthilfekräfte Einzelner (des Kindes, des Jugendlichen, seiner Eltern oder Hauptbezugspersonen) oder von Familien als System akut überfordern und einen starken Leidensdruck ausüben. Krisen treten häufig dann auf, wenn mehrere Belastungsfaktoren und Stresssituationen zusammenkommen, wodurch das Potenzial und die Kräfte des Einzelnen und des Systems überfordert sind bzw. die Bewältigungsmöglichkeiten nicht ausreichen. In der Arbeit mit Familien können Krisen auch aus der Eskalation einer problematischen und belastenden Dauersituation einer Familie entstehen, die nach einer grundsätzlichen Umorientierung verlangt. Eine psychosoziale Krise eines Kindes oder Jugendlichen kann auch indirekt bedingt sein, z.B. dadurch, dass seine Bezugspersonen eine Krise erleben und aus diesem Grund keine ausreichende Versorgung des Kindes/Jugendlichen gewährleisten können.
Anlass und Auslöser von Familienkrisen können sehr unterschiedlich aussehen:
- Krisen in bestimmten Entwicklungsphasen wie Pubertät, Geburt eines Kindes, Tod, Trennung / Scheidung, Krankheit etc.
- Scheidung / Trennung der Eltern: Überforderung der erziehenden Person mit dem Kind / Jugendlichen aufgrund eigener Probleme
- Wiederverheiratung / Patchworkfamilien
- Ausfall der erziehenden Person: durch Krankheit, Tod, eigene psychische Erkrankung oder ein anderes Ereignis
- Krisen aufgrund traumatischer Erlebnisse wie körperliche, sexuelle, psychische Gewalterfahrungen, körperliche oder psychische Vernachlässigung
- sozial oder gesellschaftlich bedingte Krisen wie Arbeitslosigkeit, Verlust sozialer Kontakte, Katastrophen u.a.
1.2. Pädagogische Krise
Eine zweite Gruppe machen die sogenannten pädagogischen Krisen oder auch akuten Erziehungsschwierigkeiten aus. Bei einer pädagogischen Krise – im Unterschied zu einer psychiatrischen Krise – tritt regelverletzendes, unkooperatives, aggressives oder dissoziales Verhalten auf, wobei das Kind oder der Jugendliche die Beziehungskontinuität zu seinen Bezugspersonen nicht vollständig abbricht und in seinem Verhalten prinzipiell nachvollziehbar bleibt. Auch sollte eine pädagogische Krise mit pädagogischen Mitteln steuerbar bleiben. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass eine pädagogische Krise sich bei fortsetzender Entsteuerung zu einer psychiatrischen Krise entwickelt.
Beispiele für pädagogische Krisen
Erziehungsschwierigkeiten: das Kind / der Jugendliche hält sich nicht an die von den Eltern gesetzten Grenzen, reagiert oppositionell oder aggressiv, Schuleschwänzen, Schulverweigerung, lügen, stehlen, Abgängigkeiten, verbale und / oder körperliche Gewalt gegenüber den Eltern
2. Psychiatrische Krise
Eine psychiatrische Krise bei einem Kind oder Jugendlichen ist dadurch definiert, dass sein Verhalten und / oder seine Befindlichkeit entsteuert sind und das Verhalten bzw. die Befindlichkeit seine normale Situationsbezogenheit und Nachvollziehbarkeit verliert und / oder selbst- oder fremdgefährdende Aspekte ins Spiel kommen.
Unterscheidung zwischen psychiatrischem Notfall und psychiatrischer Krise
- Angstzustände: Der Betroffene ist auffallend unruhig und erregt, leidet unter dem Ge fühl von Panik, äußert Todesangst bzw. Angst davor „verrückt“ zu werden.
- Erregungszustände: Der Betroffene leidet unter motorischer Unruhe, Agitiertheit sowie Enthemmung, Aggressivität und Gereiztheit. Manchmal sind die Betroffenen misstrauisch, neigen zu Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Teilweise besteht auch Verwirrtheit und Unfähigkeit zur Kontaktaufnahme
- Fremdgefährdung: enthemmter Angriff gegen andere Personen
- Reglosigkeit: Bewegungsstarre (eingeschränkte Psychomotorik), sehr spärliche oder fehlende Mimik und Teilnahmslosigkeit, Möglichkeit zur Kontaktaufnahme ist eingeschränkt oder fehlt gänzlich
- Verzweiflung / Suizidgefahr: Die Grundstimmung des Betroffenen ist traurig, teilnahmslos, äußert Suizidabsichten, gibt Schuldgefühle an
- Selbstgefährdung: akuter Suizidversuch, massiv selbstverletzendes Verhalten
- Verwirrtheitszustände: Orientierungslosigkeit, Gedankenflucht, Konzentrationsprobleme, Störungen des Gedächtnisses und Unruhe
- Rauschzustände: uneinheitliches Bild mit verschiedensten Symptomen sämtlicher oben beschriebener psychiatrischer Zustandsbilder
Da es besonders im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe manchmal unklar zu sein scheint, ob eine pädagogische oder eine psychiatrische Krise vorliegt, werden im Folgenden einige Kriterien für die Unterscheidung genannt.
3. Gegenüberstellung von pädagogischer und psychiatrischer Krise
pädagogische Krise | psychiatrische Krise | |
Allgemeines Verhalten | zielgerichtet; provokativ-verweigernd | wenig Steuerung, kurze Spannungsbögen |
Interaktion | vorhanden; v.a. negativ | wenig Interaktion, ev. stereotyp |
Befindlichkeit | kaum beeinträchtigt | deutlich beeinträchtigt |
Erregung | mittelgradig | innerlich stark erregt; nach außen ev. starr |
affektiv | Wut, Aggression | wechselnd; reizbar; depressive Grundstimmung |
Situationsbezug des Verhaltens | erkennbar; Verhalten auf Wirkung auf das Gegenüber ausgerichtet | eher gering |
Auslöser und Reaktion | Zusammenhang nachvollziehbar | Zusammenhang gering, wenig nachvollziehbar |
Selbstgefährdung | nicht vorhanden; ev. provokativ eingesetzt | vorhanden (oder schwer einschätzbar) |
Fremdgefährdung | möglich, aber kalkuliert | möglich (schwer einschätzbar) |
Reaktion der Umwelt | eher aggressiv – ärgerlich | eher Angst, Besorgnis |
Pädagogische Steuerbarkeit | kann beeinträchtigt sein (v.a. bei 11 – 15-jährigen) | nicht gegeben |
4. Psychosomatische Krise
Eine psychosomatische Krise begegnet uns in der Praxis zunächst in Form einer körperlichen Akuterkrankung. Die Symptome werden eventuell wie ein Herzinfarkt anmuten, es können uns aber auch Kreislaufzusammenbrüche, Erstickungsgefühle, Lähmungserscheinungen etc. begegnen. Ebenso Alkohol-, Drogen-, Medikamentenintoxikationen, Versorgung von Verletzungen nach Suizidversuchen und bedrohliche Ernährungssituationen (z.B. Stoffwechselentgleisungen bei Anorexie) etc. können zur Vereinfachung in der Praxis zu dieser Gruppe gezählt werden. Somit ist als erstes eine medizinische Akutintervention bzw. Abklärung zum Ausschluss organischer Ursachen nötig.
5. Entscheidungsbaum
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6. Literatur
Burchard, F. (2008, April). Jugendpsychiatrie und stationäre Jugendhilfe – Eine lohnende Schnittstelle.