Hochrisiko Kinder

Leiterin des (abgeschlossenen) Teilprojektes: Fr. Dr. Dina Ghanim (KJPP-Hinterbrühl); DSA Mag. (FH) Kathrin Weninger.

Dies ist der Bericht des Teilprojektes “Kinder und Jugendliche zwischen den Sesseln der Institutionen”

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Kurzprojektbeschreibung

Beim Vernetzungstreffen im Jänner 2011 haben wir uns in der Gruppe „Was fehlt“ mit diesen Jugendlichen befasst und beschlossen ein Treffen zu organisieren, um gemeinsam Überlegungen anzustellen, wie Jugendliche, die gefährdet sind, zwischen den Sesseln der Institutionen zu landen, identifiziert werden können.

Aus diesem Treffen entwickelte sich die Arbeitsgruppe, die im Rahmen von 7 Sitzungen des Gesamt- Projektteams, sowie 4 Sitzungen des Redaktionsteams zwischen dem 8.5.2011 und dem 12.10.2012 zusammentraf. Folgender Bericht beinhaltet eine Zusammenfassung über die Vorgehensweise und dient der Sicherung der Ergebnisse der Arbeitsgruppe.

Mitglieder: Hr. Mario Ackerl, Dr. Lilly Damm, Hr. Stephan Dangl, Prim. Dr. Rainer Fliedl, Dr. Dina Ghanim, Dr. Martina Grögl- Buchard, Hr. Gerhard Haller, Hr. Michael Hausner, Dr. Monika Klose, Mag. Susanne Pflanzer- Geisler, Mag. Susanne Stokreiter- Strau, WHR. Dr. Ernst Tatzer, Mag. Kathrin Weninger, Mag. Karin Zajec Projektleitung: Dr. Dina Ghanim

Inhaltsverzeichnis

1. Zur Gründung des Projektes
2. Zielsetzung
3. Projektaufbau
4. Vorgehensweise
  • 4.1 Erarbeitung einer Kriterienliste für Risikokinder/ Jugendliche/ Familien
  • 4.2 Bereich Dokumentation und Kommunikation
5. Einzelfallanalysen
6. Ergebnisse
  • 6.1 Schutzfaktoren Kind
  • 6.2 Risikofaktoren Kind
  • 6.3 Schutzfaktoren Eltern
  • 6.4 Risikofaktoren Eltern
  • 6.5 Schutzfaktoren Institution
  • 6.6 Risikofaktoren Institution
7. Schlussfolgerungen- Handlungsebene
8. Literatur

1. Zur Gründung des Projektes

Bei der Netzwerktagung im Jänner 2010 fand sich innerhalb des Arbeitskreises “Was fehlt” eine Arbeitsgruppe, die sich mit Jugendlichen befasste, bei deren Behandlung und Betreuung man sich besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt fand. Die Beteiligten teilten die Erfahrung, dass sich für diese Jugendlichen keiner zuständig fühlen wollte. Es stellte sich bei jedem, der sich mit ihnen beschäftigte, der Eindruck ein, in einer anderen Institution wären sie viel besser betreut. Es sollte sich doch nur jemand (jemand anderer als man selbst) zuständig fühlen, mehr bemühen etc.. Es war überraschend, dass diese Erfahrung doch von einigen geteilt wurde und so wurde unser Teilprojekt gegründet.

2. Zielsetzung

Jugendliche zwischen den Sesseln der Institutionen sind Jugendliche, für die sich niemand zuständig fühlt, die in einer anderen Institution immer besser betreut wären als in der eigenen; schwierige, auffällige, verweigernde, gewalttätige, bedürftige, psychisch-kranke oder kriminelle Jugendliche.

Diese Kinder und Jugendlichen haben häufig lange Behandlungskarrieren in wechselnden Institutionen hinter sich, weisen eine komplexe Problematik auf und bedürfen einer Kombination aus pädagogischer, sozialpädagogischer, fördertherapeutischer, medizinischer und psychotherapeutischer Betreuung und Behandlung.

Ihnen bzw. deren Familien, steht eine Vielzahl unterschiedlicher psychosozialer und medizinischer Hilfeeinrichtungen zur Verfügung.

Häufig wird in den Helfersystemen die Erfahrung gemacht, dass gerade diese Kinder und Jugendlichen bzw. deren Familien besondere Schwierigkeiten bereiten, diesem komplexen Hilfebedarf gerecht zu werden. Wir finden dann, die Familien können keine Hilfe annehmen, sie entziehen sich der Behandlung etc..

Als charakteristischer Behandlungsverlauf zeigt sich, dass nach/bei Scheitern einer Maßnahme- in der Regel konsekutiv- die unterschiedlichen Hilfsdienste mit ihren möglichst noch intensiveren, effektiveren Behandlungsangeboten, nacheinander geschaltet, eingesetzt werden. Behandlungsabbrüche an der Schnittstelle sind häufig die Folge. Es fehlt die Abstimmung zwischen den nacheinander tätig werdenden Hilfsdiensten. Die Angebote kommen häufig verzögert, zu einem Zeitpunkt, wo die jeweils durchgeführte Maßnahme schon nicht mehr wirksam werden kann.

Es kommt zu, für die Behandlung dieser Patientengruppe typischen, Szenarien:

Wir wollen die Patienten „loswerden“, sie passen besser in eine andere Institution. Zwischen den Institutionen kommt es häufig zu „Verantwortungsdelegation“ und Schuldzuweisungen über verfehlte Einschätzungen und Interventionen der Vorbehandler und bei den Patienten bzw. deren Familien zu Fehlerwartungen und immer wieder zu Frustrationen. Eine Situation, die insgesamt eine sinnvolle und vorausschauende Hilfeplanung erschwert oder unmöglich macht. Nur ein möglichst gleichzeitiger, koordinierter Einsatz der beteiligten Hilfesysteme vermag die Chancen effektiver Hilfeplanung zu steigern.

Übergeordnetes Ziel des Projektes „Jugendliche zwischen den Sesseln“ ist eine Auseinandersetzung damit, welche Änderungen im Gesundheitssystem notwendig sind, um für diese Jugendlichen sinnvolle Behandlungspläne zu erstellen und umsetzbar zu machen.

3. Projektaufbau

Mitglieder: Die Projektmitglieder bestehen aus Vertretern der unterschiedlichen Institutionen im Industrieviertel: Kinder- und Jugendpychiatrie, Jugendwohlfahrtseinrichtungen: Jugendämter und niederösterreichische Landesjugendheime, Kompetenzzentren der Jugendwohlfahrt, Krisenzentren, Wohngemeinschaften, Mitarbeiter sozialpädagogischer und sozialtherapeutischer Einrichtungen, Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde Die Projektmitglieder stammen aus unterschiedlichen Professionen: ÄrztInnen, PsychologInnen, PädagogInnen, JuristInnen, Dipl. SozialarbeiterInnen Als primäre Zielsetzung wurde die Erkennung gefährdeter Jugendlicher von der Arbeitsgruppe definiert.

4. Vorgehensweise

Die Notwendigkeit der Unterscheidung von drei Ebenen

    1. Ebene: Identifizierungsebene
    2. Ebene: Dokumentations- und Kommunikationsebene
    3. Ebene: Interventionsebene

Erarbeitung einer Kriterienliste für Risikokinder/ Jugendliche/ Familien

Im Bereich der Identifizierungsebene, einigten wir uns auf die Notwendigkeit der Definition von Identifizierungskriterien zur Erfassung gefährdeter Jugendlicher anhand von Einzelfallstudien (Ausarbeitung von anonymisierten Einzelfallanalysen, Kriterien- und Clusterbildung mit der Fragestellung: lassen sich „schwierige“ Jugendliche in „Untergruppen“ zusammenfassen als Hintergrund. Durch die Auswahl möglichst unterschiedlicher Einzelfälle und Verläufe sollten Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden.

Parallel dazu wurde vergleichbare Literatur untersucht. Das „Redaktionsteam“ überprüfte, ergänzte und verglich die erarbeiteten Kriterien.

Bereich Dokumentation und Kommunikation

Über einen Vergleich der, in den Institutionen verwendeten Dokumentationsinstrumente, und der Untersuchung der Dokumentationsinstrumente daraufhin, ob sie die notwendige Information (die Kriterien in einer prägnanten Form) erfassen, sollten Kriterien zu einer sinnvollen Dokumentation und Kommunikation entwickelt werden. Es ist eine Zusammenfassung über die Dokumentationsinstrumente der Institutionen in Arbeit, die sich mit obengenannten Schwerpunkten auseinandersetzt. Die Gründung einer weiteren Arbeitsgruppe, die sich damit befasst, wie ein notwendiger und sinnvoller Austausch darüber stattfinden kann, wäre sinnvoll und notwendig.

5. Einzelfallanalysen

Insgesammt wurden acht Fälle analysiert. Zwei Beispiele werden hier vorgestellt.

Fallbeispiel 1
  • D., weiblich 14 Jahre
  • Diagnose: F92.8 Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
  • 13 Jahre zum Zeitpunkt der Erstvorstellung

Vorstellungsgrund: Stimmungsschwankungen, Impulsdurchbrüche bei gleichzeitiger depressiver, trauriger Stimmung, Verzweiflung und Unsicherheit. D. sei viel mit Freunden, die teilweise. aus dissozialem Milieu kämen, unterwegs, selbstverletzendes Verhalten

  • bis zum 5. Lj. wächst D. in Brünn zuerst in einem Groß- Kinderheim, dann bei einer Pflegefamilie, danach bei einer anderen Pflegefamilie auf
  • Mutter sei Tschechin, Sinti- Wurzeln, psychische Erkrankung der leiblichen Mutter, es gab weitere Geschwister von denen D. nicht wusste, wo sie sich aufhielten, Großeltern leben noch in Brünn.
  • um ein Jahr jüngere leibliche Schwester, die bereits mit 1 ½ Jahren von denselben Adoptiveltern adoptiert wurde. D. wurde im 5. Lj. nach Wr. Neustadt nachgeholt und ebenfalls adoptiert.
  • ab der Volksschule schulische Schwierigkeiten: Verhaltens- und Leistungsprobleme, mehrere Schulwechsel, Schulverweise, schliesslich Besuch einer HP-Klasse
  • mehrmalige Vorstellungen an der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, jeweils Krisenaufnahmen, zu einem geplanten diagnostischen Aufenthalt kam es nicht, D. verweigerte dies und auch die Adoptivmutter zeigte Ambivalenzen diesbezüglich
  • Ambulante Psychotherapie während 1-2 Jahren, 1x pro Woche, dann Wechsel der Therapeutin in den privaten niedergelassenen Bereich, „neuerlicher Beziehungsabbruch“; mit neuen Psychotherapeutinnen habe sich D. nicht verstanden und die Therapien abgebrochen.
  • Psychologische Diagnostik fand ambulant statt.
  • zunehmende Verhaltensauffälligkeiten, Eskalation zuhause, Unterbringung im Krisenzentrum Wr. Neustadt für sechs Wochen, es folgte wieder eine Entlassung nachhause, schließlich häufige Abgängigkeiten,
  • die geplante Aufnahme in einer Wohngemeinschaft scheiterte nach kurzer Zeit, D. kam wieder nach Hause Es eskalierte erneut mit Handgreiflichkeiten zwischen ihr und dem Adoptivvater, es folgte eine Übertragung der Obsorge an das Magistrat Wr. Neustadt D. zog zur Familie ihres Freundes (immer wieder Impulsdurchbrüche mit tätlicher Aggression). In der Familie des Freundes wurde ein strukturloses, wenig entwicklungsförderliches Umfeld beschrieben. Die Mutter des Freundes hätte mehrere Personen bei sich aufgenommen, denen sie Unterkunft gewährte, es wäre ein delinquentes, vernachlässigendes Milieu, der Konsum illegaler Substanzen der Mitbewohner wurde vermutet, gleichzeitig bestand immer wieder Kontakt zu den Adoptiveltern und schließlich auch zu den leiblichen Eltern, welche in Tschechien wohnen, es kam schliesslich zu einer konflikthaften Dynamik zwischen den Parteien
  • zuletzt schlechter Gesundheitszustand mit körperlicher Verwahrlosung
  • kein Schulbesuch bei noch bestehender Schulpflicht
Fallbeispiel 2
  • A., männl., 14a
  • Diagnose: F91.1 Störung im Sozialverhalten mit fehlenden sozialen Bindungen, v.a. narzisstische Persönlichkeitsentwicklungsstörung mit massiv dissozialer Symptomausprägung
  • Fremdunterbringung mit sieben Jahren
  • Geburt in anderem Bundesland
  • Kindergartenbesuch und Besuch der 1. und 2. VS Klasse im Geburtsort
  • Eltern stammen ursprünglich aus Serbien
  • Trennung der Kindeseltern als A. vier Jahre alt war. Es gibt einen um vier Jahre jüngeren leiblichen Bruder.
  • mit sieben Jahren Umzug in eine kleine Ortschaft in NÖ
  • Kindesmutter, Stiefvater und der leibliche Bruder leben im gemeinsamen Haushalt
  • schlechte Beziehung von A. zum Stiefvater
  • es bestehen unregelmäßige Kontakte zum leiblichen Vater, der von der Mutter als wenig zuverlässig, wenig Grenzen setzend beschrieben wird. Er sei nach Serbien zurückgezogen, unter anderem, da er hier Schulden habe
  • Diagnose von ADHS und Pavor nocturnus im Volksschulalter, medikamentöse Behandlung mit Ritalin, Concerta und schließlich Amphetaminsulphatsaft. Es fand eine stationäre diagnostische Abklärung statt, ab dem 10. Lebensjahr keine Medikation mehr.
  • Fremdunterbringung im LJH Pottenstein (wegen disziplinärer Schwierigkeiten im familiären wie schulischen Bereich); aufgrund schwierigen Verhaltens kurz darauf ein Wechsel ins LJH Matzen statt, wo es über vier Jahre gut ging.
  • nach stabiler Phase auch hier massive Schwierigkeiten: Abgängigkeiten, Eskalationen im Gruppenalltag, Schulverweigerung, Suspendierung von der Schule, wobei er bis dahin gute Leistungen in der Schule erbracht hatte.
  • Einbeziehung multipler Institutionen:
    • Krisenzentrum Brücke St. Pölten
    • Krisenaufnahme in der STA Kids Hinterbrühl – für ein Probemonat – aufgrund massiver Regelüberschreitungen Entlassung
    • Krisenzentrum Allentsteig, wo er jedoch sofort abgängig war
    • Krisenzentrum Wr. Neustadt mit Suspendierung und Entlassung
    • Unterkunft bei diversen Freunden und im Krankenhaus auf einer Kinderabteilung
  • Er zeigt delinquentes Verhalten (Stehlen des Autos des Stiefvaters und unerlaubte Inbetriebnahme, Unfall und Fahrerflucht)

Den Berichten ist zu entnehmen, dass A. über ein großes Geschick verfügt auch erwachsene Menschen für sich einzunehmen und teils zu instrumentalisieren, was u.a. soweit geführt habe, dass eine Journalistin, sowie ein Polizeibeamte bei der Jugendwohlfahrt interveniert hätten.

Schließlich erfolgt eine Aufnahme an der KJPP, mit dem Ziel einer diagnostischen Abklärung und Einbegleitung in die STA-Kids, (Sozialtherapeutische Abteilung, Aufenthalte für ½ Jahr-1 Jahr) des HPZ- Hinterbrühl. Die ersten Tage des Aufenthaltes verlaufen noch weitgehend problemlos, A. testet jedoch rasch alle Grenzen aus, infolge kommt es zu einer 4-tägigen Abgängigkeit, in deren Rahmen seine Beteiligung an einem Diebstahl am Areal (Einbruch in das Büro einer Mitarbeiterin am Gelände) klar wird, jedoch keine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht. Es folgt die Entlassung.

Letzte geplante Maßnahme: Auslandsaufenthalt im Rahmen der Jugendwohlfahrt (z.B. Irland) mit ausreichender Distanz zur Familie sowie zum gewohnten Umfeld

6. Ergebnisse

Über die Bearbeitung der Einzelfälle kommen Kriterien auf drei Ebenen zur Darstellung:

  • Ebene des Kindes 6.1.
  • Ebene der Eltern 6.2.
  • Ebene der Institutionen 6.3.

Weiters findet eine  Unterteilung der Kriterien in Risiko- und Schutzfaktoren statt.

Als Nebeneffekt der Herausarbeitung dieser drei Ebenen, stellt die institutionelle Ebene mit ihren Risiko- und Schutzfaktoren nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Identifikation dar, sondern ist gleichzeitig der Punkt, an dem wir handelnd ansetzen können um Verbesserungen in der tatsächlichen Behandlungsplanung und deren Realisierung zu erreichen, ist also wegweisend für die Handlungsebene.

6.1. Ebene des Kindes
6.1.1. Schutzfaktoren

Eigenverantwortung und Partizipation

  • Compliance
  • Einbeziehung und Aktivierung der Jugendlichen

Interpersonelle Faktoren

  • Hohe Beliebtheit bei anderen Kindern und Jugendlichen
  • Bindungs- und Beziehungsfähigkeit

Intrapersonelle Faktoren

  • Hohes Selbstwertgefühl
  • Durchschnittliche kognitive Begabung
6.1.2. Risikofaktoren

Hardfacts

  • Zunehmendes Alter, früher Beginn der Auffälligkeiten, lange Behandlungsdauer/ institutionelle Betreuung, Chronifizierung
  • Externalisierende Problematik
  • Diskrepanz zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Intelligenz
  • Männliches Geschlecht
  • Migration
  • Trauma/ Missbrauch
  • Kognitive Leistungs- oder sensorische Integrationsstörung
  • Zahl der Schulwechsel
  • Somatische schwere Erkrankung, somatisch schlechter Allgemeinzustand
  • Verdacht auf Persönlichkeitsentwicklungsstörung

Schwere Beziehungsstörung

  • Integration in „gestörte“ Peer- Group
  • Frühe Bindungsstörung, Abbrüche gewachsener Beziehungen
  • Heftige Geschwisterrivalität
6.2. Ebene der Eltern
6.2.1. Schutzfaktoren

Erziehungsverantwortung und Beteiligung

Äußere familiäre Rahmenbedingungen

  • Intakte Familie
  • Hoher sozio- ökonomischer Status
6.2.2. Risikofaktoren

Massive Beziehungsstörung

  • Hohe Ambivalenz in der Beziehung zum Kind
  • Borderline-System
  • Diskrepanz zwischen „Unauffälligkeit“ des Systems und „Krisenakutheit“
  • Fehlen einer männlichen Bezugspersonen und/oder eines positiven männlichen Rollen- oder Identifikationsmodells

Familiäre Rahmenbedingungen

  • Trennung, zerrüttete Familie
  • Migration
  • Psychische Krankheit (eines oder beider Elternteile)
  • Niedriger sozio-ökonomischer Status
  • Traumen oder andere kritische Lebensereignisse in der Biografie der Eltern

Erziehungskompetenz

  • rigider oder inkonsequenter Erziehungsstil
  • Überforderung
6.3. Ebene der Institution
6.3.1. Schutzfaktoren

Rahmenbedingungen

  • Klarheit, Übersichtlichkeit, Hoffnung auf erreichbare Ziele, Spaltungsprozessen entgegenwirken, Vertrauen entstehen lassen, Autonomie der Hilfesuchenden etablieren
  • Patientenzentrierte Hilfe: auf individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten und die Besonderheit der individuellen Lebenswelt ausgerichtete integrierte Behandlung und Betreuung
  • Qualifikation und Belastbarkeit des Personals
  • Strukturierte organisatorische Rahmenbedingungen
  • Tätigkeit im Rahmen tragfähiger Organisation
  • Ressourcenorientierung

kommunikationsbezogene Schutzfaktoren

  • Dialogische Kommunikation zwischen den einzelnen Helfersystemen
  • Offenheit beim Umgang mit Schwierigkeiten
  • Wechselseitige Information und Verständigung über Erklärungsmuster und Handlungsempfehlungen
  • Gemeinsame Fortbildungen und gemeinsamer Fachaustausch
  • Gemeinsame Kultur und Struktur der Verständigung
  • Gleichberechtigung

Datenaustausch-Hindernisse: Bestimmungen zum Datenschutz lassen auch Ausnahmeregelungen zu, die bei der Entwicklung von Standards für einen qualifizierten Informationsaustausch zwischen den Fachdiensten genutzt werden sollten. Datenaustausch zwischen Klinik, Jugendhilfe und Schule. Mit Einverständnis der Eltern können bei Bedarf Informationen aus der Klinik auch an die Jugendhilfe und Schule (Fallkonferenz) weitergegeben werden.

Kooperation – prozessbezogene Schutzfaktoren

Kooperativer Behandlungsplan als Schlüsselprozess: Zielsetzung – Umsetzung – Überprüfung – Koordination

Geklärte Strukturen und Regeln für Kooperation und Partizipation im Leistungsdreieck von Leistungsempfänger, Leistungserbringer und Kostenträger

  • Festlegung der Durchführungsverantwortung
  • kleinschrittige und realistische Zielformulierungen
  • Evaluierung des Behandlungsprozesses
  • Transparente Regelung der Zuständigkeit und des Verfahrensablauf
  • Case-Management, Fallverantwortung
  • effektiveres Fallmanagement benötigt funktionierende Angebotsnetze – das bedeutet, dass qualitativ und quantitativ ausreichende Hilfeangebote existieren müssen bzw. ein Modus institutionalisiert ist, um die entsprechenden Angebote – wenn sie denn fehlen – rasch aufzubauen
  • Transparenz
  • Reflexion
  • verbindliche und vertraglich vereinbarte Kooperation zwischen den Hilfesystemen mit Verfahrensregelungen für den Konfliktfall
  • Entschleunigung, ausreichende Vorbereitung einer Maßnahme, Sicherstellung einer entsprechenden handlungsorientierten diagnostischen Abklärung, mit qualifizierter Stellungnahme vor Setzen einer Maßnahme

Kooperation – personenbezogene Schutzfaktoren

Gemeinschaftliches Vorgehen der Hilfesysteme unterstützt die Mitwirkungsbereitschaft und Fähigkeit der Eltern und Jugendlichen und damit auch die Möglichkeit zum Datenaustausch Gemeinsame Falldefinition, gemeinsames Fallverständnis, Verständigung über diagnostische Grundlagen und Dokumentation, gemeinsame Fallkonferenzen, gemeinsame Zielvereinbarungen in der Hilfeplanung, gemeinsame Entscheidung über die Fallverantwortung

  • gegenseitige fachliche Achtung
  • mehrperspektivische, mehrdimensionale Fallarbeit, interdisziplinäre bzw. sogar transdisziplinäre Ausrichtung der Zusammenarbeit
  • verständliche, ausreichende und zeitnahe Informationsübermittlung
  • frühestmöglicher Einbezug von Hilfen zur Erziehung
  • persönliche Begegnung
  • Notwendigkeit der Überschreitung der Grenzen der Versorgungssysteme bei besonderen Einzelfällen angesichts der Komplexität von Problem verursachenden Faktoren bei Gesundheitsstörungen von Kindern, Jugendlichen und jungen Heranwachsenden. Für eine effektive Versorgungsplanung ist es daher notwendig, die Grundlagen für ein gutes regionales Kooperationsklima zu schaffen und auch zu sichern.

Ein Kind mit komplexen Hilfebedarf benötigt keine komplexen Zuständigkeiten. Vielmehr müssen alle notwendigen Hilfen so auf seine besondere individuelle Lebenssituation zugeschnitten sein, dass sie „wie aus einer Hand“ erscheinen.

6.3.2. Risikofaktoren

Kooperation – prozessbezogene Risikofaktoren

  • Druck, hohe Dynamik, Interventionen aus der Krise heraus, Zahl der Telefonkontakte
  • fehlende handlungsorientierte Diagnostik vor Setzen einer Maßnahme
  • Ziel der ersten Maßnahme nicht erreicht, „falsche Unterbringung“, mehrmaliger Institutionenwechsel
  • ein zu früh einsetzendes und zu schnell schematisierendes Assessment-Verfahren
  • „creaming the poor“: alle Programme auf die Klienten auszurichten, die die größten Chancen haben, sich wieder zu integrieren
  • nicht erkennbare Zwischenergebnisse
  • Informationsverlust, der eine Kontinuität von Begleitung/ Behandlung erschwert

Kooperation – personenbezogene Risikofaktoren

  • unklare Zuständigkeiten, Verantwortungskompetenz stimmt nicht mit Entscheidungskompetenz überein, mangelndes Wissen um die gegenseitigen Entscheidungsstrukturen
  • Konkurrenz
  • mangelnder sprachlicher Konsens
  • abweichende Erwartungen eines Partners, vor allem bei auftretenden Schwierigkeiten
  • Mitagieren, Übernahme der Pathologie der Familie im Helfersystem
  • nicht aufgelöste Vorbehalte
  • mangelnde Offenheit
  • Nebenabsprachen
  • zu geringe Ressourcenorientierung

7. Schlussfolgerungen- Handlungsebene

Konzept der kooperativen Hilfeplanung

Das Konzept der kooperativen Hilfeplanung bedeutet: gemeinsam erarbeitete und verbindlich gestaltete Vorgehensweisen für Kinder, Jugendliche und Familien mit komplexem Hilfebedarf:

Die Einführung des Instruments der gemeinsamen und nach festgelegten Kriterien durchgeführten Fallkonferenz, die durch die Erstellung von verbindlichen und transparenten Rahmenbedingungen und Vorgehensweisen die Funktion eines verbindlichen Entscheidungsorgans erhält und deren Organisation unter der Verantwortungskompetenz eines Case- Managers steht.

Die Eltern/ Obsorgeberechtigten wenden sich in der Regel an den aus ihrer Sicht zuständigen Fachdienst, der bei Zutreffen mehrerer Risikokriterien mit der Familie die Möglichkeit einer frühzeitigen Einbeziehung anderer Fachdienste als Bereicherung und Chance einer besseren Hilfeplanung deutlich machen muss.

Dafür braucht es ein Dokumentationssystem, das erlaubt, nach Einholung der Einverständnis der Obsorgeberechtigten, alle entscheidungsrelevanten Informationen zwischen den beteiligten Institutionen zu transportieren und gleichzeitig den Prozessverlauf und das Prozessergebnis abzubilden.

Persönliche Erfahrungen

Die einzelnen Mitglieder legten ihre Erfahrungen im Rahmen ihrer Projektmitwirkung dar, die eine Veränderung der persönlichen Arbeitsweise im Alltag bewirkte: Sie berichteten von einer Art persönlichen Checkliste im Kopf, nach der sie die KlientInnen/PatientInnen durch scannen, mit dem Hintergrund einer früheren Erfassung von Risikokindern, Jugendlichen und deren Familien. Ein besonderes Augenmerk würden sie mit dem Hintergrund der Informationen aus der Arbeit am Projekt auf Entschleunigung, der Durchführung von Helferkonferenzen zur Auftragsklärung, der Evaluation der Behandlung, der Vernetzung, um realistischere Erwartungen an Kooperationspartner bezüglich Ressourcen und Möglichkeiten zu haben, einer handlungsorientierten und genauen Diagnosestellung und einer besseren Voraus-Abklärung, um möglichen Schwierigkeiten im Behandlungsverlauf frühzeitig zu begegnen, legen.

8. Literatur

Besonders fruchtbare Forschung auf diesem Gebiet wird in Deutschland betrieben. Hier sind besonders die Projekte von Dr. Joachim Jungmann, weil diese groß angelegt und ausführlich dargestellt werden, zu erwähnen

    1. Modellprojekt des Landes Sachsen Anhalt:„Verbesserung der sozialpsychiatrischen Versorgung für Kinder und Jugendliche durch Kooperation zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jugendamt, Gesundheitsamt, Sozialamt und Bildungswesen“
    2. in Kooperation mit Gotthard Roosen-Runge:„Integrative Organisationsstrukturen zur Versorgung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen“ im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziales, Aachen 2004. Ähnliche Projekte: Sachsen, Leipzig, Berlin, Hamburg

Dabei lassen sich folgende Unterschiede zu unserem Projekt herausarbeiten:

Unser Projekt ist aus der Initiative der Projektmitglieder entstanden. Die wissenschaftliche Begleitung war nicht geplant, hat sich aber im Projektverlauf als notwendig ergeben. Alle vergleichbaren Projekte sind Top-down Projekte: z.B. das Projekt von Dr. Jungmann: Zuerst wurde ein Bundesmodellprojekte von der deutschen Bundesregierung in Auftrag gegeben und finanziert. Dies führte zu positiven Ergebnissen, sodass weitere Aufträge für Landesmodellprojekte folgten. Diese Vorhaben waren finanziell und organisatorisch in der Durchführung abgesichert.

Daraus lassen sich auch einige der Kritikpunkte unseres Arbeitsprojektes erklären:

z.B. das Fehlen von Schule und Schulpsychologischem Dienst: Eine sinnvolle Hilfeplanung müsste die enge Kooperation mit dem schulischen Bildungssystem einschließen.

Erziehungs- und Bildungsaufgaben stehen in engem Zusammenhang und können bei Kindern mit seelischer Erkrankung oder Behinderung langfristig nur erfüllt werden, wenn schulpädagogische Ziele und Inhalte an den besonderen Bedürfnissen des seelisch erkrankten Kindes bzw. Jugendlichen ausgerichtet werden.

Die fachlichen Kenntnisse und Erfahrungen der Schulpädagogik und Sonderschulpädagogik müssen in die Planung eines ganzheitlichen Konzeptes von Therapie und Förderung einbezogen werden. Weitere Kritikpunkte stellen das Fehlen des Sozialamtes (Schwierigkeiten häufig verstärkt an der Schnittstelle des Überganges ins junge Erwachsenenalter) und das Fehlen niedergelassener Kinder- und Jugendpsychiater und Fachärzte für Kinder- und Jugendheilkunde dar.